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Hausen

Stabil und Schön hat seinen Anfang an einem kahlen und unwirtlichen Ort genommen, einer vollkommen leeren Halle in einem verfallenden Fabrikgebäude am Rand der urbanen Zone München. Die Künstler haben sich diesen Raum für mehre Wochen angeeignet und Ausflüge in die umliegenden Nutzwälder unternommen. Stück für Stück ist eine Lebensumgebung gewachsen, ein Zusammenhang eigener Dinge, in denen sich praktische Notwendigkeiten und künstlerische Intuitionen begegnen. So wurden Kleidungstücke und Tragetaschen gefertigt, Sitzgelegenheiten und eine große Liegefläche entworfen. Dem atmosphärischen Sog dieser Dinge folgend, sind kurze Filme entstanden, die die Künstler im Umgang mit der von ihnen entwickelten Umgebung zeigen. Dazu treten Sequenzen, die während den Exkursionen gefilmt wurden. In ritualartigen Sessions wurden zudem Geräusche und Laute aufgenommen.



Inventar der Gegenstände

3 Arbeitsanzüge
Eine Fetttasche
Eine Große Tasche zum Sammeln im Aussenbereich
Zwei Tragetaschen für Flachbildschirme
Ein Bildschirmträgergerüst
Ein Sofa.
Ein Paravent.
Ein Kleiderhaken  
Eine Plattform für Aufenthalt, Schlafen, Aussicht und …
Ein Wellnessloch
Ein Fühl und Putzstab
Ein Bodenbelag
Ein Herd





 




Kreuzung aus Camp und Interieur

Zu sehen ist ein großflächiges Arrangement von Dingen, die einen konkreten Nutzen zu haben scheinen. Wie der verlassene Schauplatz einer ausdifferenzierten aber schwer einzuordnenden Lebensweise mutet es an: Eine fremdartige Kreuzung aus Camp und Interieur. Manche der Gegenstände wirken archaisch, aber es gibt auch zahlreiche Hinweise auf die technisierte Zivilisation. All das lässt an ein Leben in einer Randzone der modernen Kultur oder aber an ein Leben nach deren Verfall denken.


Im Zentrum der Anordnung befindet sich ein sehr hoher luftiger Paravent aus drei Teilen. Von diesem teilweise umschlossen wird ein Sofa. Es ist mit knallroter Lackfolie und weinrotem Kunstleder bezogen.  Die Füße bilden schwere Holzbalken.  An einem Teil des Sofarückens liegt das Innenleben aus Schaumstoff frei.  Eine große dreieckige Plattform ist in die Ecke des Raumes eingefügt. Sie ruht ebenfalls auf großen Holzbalken, welche hier nach der Art eines Fachwerks verbunden sind. Ein organisch geformtes Gebilde ist in einen Winkel der Plattform eingelassen.  Es ist mit dreieckigen Ausschnitten eines Musterstoffs bedeckt, was den optischen Effekt einer flirrenden Scheinregelmäßigkeit erzeugt. Der seltsame Körper enthält eine große runde Vertiefung, die an ihrer Unterseite von einer porösen hölzernen Masse  umwuchert wird.  Auch unter dem Sofa breitet sich diese Masse aus, und umschließt einen der hier flach gelegten Bildschirme. Die restliche Fläche der Plattform ist mit einem in Form genähten Stück schwarzer Folie überzogen. Die Holzelemente sind verwittert, dagegen wirkt der absurde Musterstoff, der an vielen Stellen verwendet wird, zwar ebenfalls etwas älter, aber neuwertig. Vier Taschen aus Stoff und dicker Lackfolie sind über das Arrangement verteilt. Zwei von ihnen tragen Bildschirme, eine dritte beinhaltet eine kreisrunde Scheibe Fett, die vierte und größte erscheint von aussen betrachtet leer. An einer Ecke des Paravents hängen, befestigt an einem organisch geformten Hacken aus Knetmasse, drei Anzüge, die aus dem gleichen Musterstoff gefertigt sind, wie auch die Taschen und der organisch geformte Einsatz der Plattform. Sie hängen da wie abgestreifte Häute. Des weiteren lehnt eine längliche Gerätschaft an dem Holzrahmen, ein Stab, an dessen Ende sich ein Zacken besetztes Stück weichen Kunststoffes befindet.

 


In Löcher fühlen

Die schließlich im Münchener Kunstpavillon zusammen geführte Installation verschmilzt die in der Fabrik entstanden Dinge, Filme und Klänge zu einer komplexen poetischen Erzählung.  


Auf drei  Flachbildschirmen werden die  Filmsequenzen  gezeigt, die nicht für sich stehen, sondern mit dem Ganzen der Arbeit verwachsen sind: Zwei von ihnen sind Taschen aufgehängt, der dritte ist in den Bodenbelag aus Sägespahnmasse eingelassen.

Alle Episoden sind mit ruhender Kamera gefilmt. Die Aufnahmen nähern sich so einem objektiven ausschließlich aufzeichnenden Blick, der die Frage nach dem unsichtbaren Beobachter, der das Geschehen vor der Linse interpretiert, in den Hintergrund treten lässt.

Immer wieder zeigen die Filme eine sinnliche und körperliche Erkundung von Dingen und Materialien, von Hohlräumen, Formen, und  Oberflächeneigenschaften – erotische Begegnungen mit Dingen also, die aus der Zone der menschlichen Kommunikation der Körper ausgewandert sind.   

Eine Hauptgruppe von Szenen zeigt Grundformen des Praktischen Handelns wie „graben“, „vermessen“, und „reinigen“ in einem fremdartigen Kontext. So gräbt einer der Protagonisten am Fußende eines Baumes nach Dingen, die nicht weiter identifiziert werden, und sammelt diese in einer großen Tragetasche. Die Sequenz lässt an Aufnahmen aus Tierfilmen denken. Trotz der objektiven Außergewöhnlichkeit des Geschehens überwiegt der Eindruck der selbstverständlichen Darstellung einer tatsächlich existierenden Lebensform.

Daneben gibt es ruhende Aufnahmen im Wald, Panoramen eines architektonisch aufgereihten Fichtenbestandes und stark symbolisch oder sogar eigentümlich belebt anmutende Stillleben des Waldbodens. Wie das Fabrikgebäude ist auch der Nutzwald ein geplantes Artefakt und weit davon entfernt, ursprünglich und bloß natürlich zu sein. So vollzieht sich das gesamte Filmgeschehen  in Grenzfällen des gebauten Raumes: Der geplanten Natur an der Schwelle zur reinen Künstlichkeit und dem Gebäude im Verfall und also im langsamen Übergang zur Natürlichkeit.

Eine lange Einstellung, wie von einer Überwachungskamera von einem erhöhten Standpunkt aus auf genommen, zeigt die drei Protagonisten bei verschiedenen Aktivitäten im Fabrikgebäude. Ähnlich den Totalen, die in Lars von Triers Dogville das gesamte Geschehen des kleinen Dorfes zeigen, suggeriert dieser summarische Blick die Existenz einer strukturierten sozialen Einheit, eines dynamischen Systems, das sein eigenes Leben hat und seinen eigenen Gesetzen folgt.

Immer wieder sind die Episoden mit repetitiven an und abschwellenden Vokalisationen unterlegt, die von den Künstlern im Fabrikgebäude aufgenommen wurden. Sie lassen an die Praxis der Naturreligionen denken: an die rituelle Auseinandersetzung mit einer beseelten Welt der Dinge.

 

 

Liste der Filmsequenzen

Fett kochen
Bestreichen von Holzbalken mit Fett
Befühlen von Sofa
Befühlen von Holzbahnen
Befühlen von Balken
Menschenkneuel
Arbeit
Pirsch im Wald
Graben im Wald
Baum vermessen
Gras Schneiden
Vorhof reinigen
Baumreihe
Waldboden I
Wald

 



 

Einfügen der Bedürfnispyramide in einen 250 m² großen Raum



Das inhaltliche Gravitationszentrum des schillernden Kosmos Stabil und Schön sind die elementaren menschlichen Bedürfnisse: das Bedürfnis nach Nahrung, nach Kraft sparender Lagerung des Körpers, nach Geborgenheit, nach dem Fühlen der eigenen körperlichen Begrenzung, nach Schönheit, nach Intimität, nach Sexualität, nach einer Identitätsstiftenden Beziehung zu Dingen, die man sich zu eigen macht. Der Begriff des Grundbedürfnisses trägt eine schwere Ladung an Konnotationen. Sofort kommen ideologische Auseinandersetzungen über das Wesen des Menschen in den Sinn, ethische Fragen nach dem guten und richtigen Leben stehen im Raum, Wüstenväter grüßen aus weltabgewandten Klausen und die Insel Utopia ist nicht weit. Denn normative Entwürfe der Gesellschaft und des richtigen und guten Daseins setzen oftmals bei der Bestimmungen dessen an, was der Mensch unabdingbar zum Leben braucht. Stabil und schön begegnet diesem thematischen Feld jedoch nicht mit einer diskursiv fassbaren Haltung.  Die Arbeit bildet vielmehr eine vielstimmige Improvisation über die Grundbedingungen menschlichen Lebens, die sich der gleichermaßen offenen wie nuancenreichen Sprache des Bildes, also der ästhetisch und semantisch durchgeformten Einheit von ikonischen Zeichen, bedient. Die Atmosphäre der Arbeit changiert dabei zwischen fröhlicher Ironie, verschlüsseltem Traum, und tatsächlicher Entwicklung einer Lebensform aus authentischen Impulsen.






 

STABIl UND SCHÖN,

Kunstpavillon München, 05.06. - 14.06. 2015,

Melina Hennicker, Michael Schmidt und Andreas Woller
 

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